Im Zentrum der psychologischen Überlegungen über die NS-TäterInnen steht die von Christopher Browning in die Forschung zur Shoah eingebrachte These von den Tätern und Täterinnen als "ganz normalen Männern" und Frauen. Er entwickelte sie anhand der Geschichte des Reserve-Polizeibataillons 101, das zwischen Juni 1942 und November 1943 an der Ermordung von über 80.000 jüdischen Menschen in dem von den Deutschen besetzten und terrorisierten Polen beteiligt war.
Was in sozialpsychologischer Hinsicht für die an der Shoah beteiligten NS-TäterInnen gilt, lässt sich auch auf die gesamte systematische Verfolgungspraxis des nationalsozialistischen Deutschlands übertragen: den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma, die sog. "Euthanasie", die KZ-Haft von an die Normen der "Volksgemeinschaft" nicht angepassten Minderheiten (z. B. homosexuell orientierten Menschen, Obdachlosen, Arbeitsverweigerern etc.), die Inhaftierung bzw. Ermordung politischer, kultureller, religiöser und nationaler WiderständlerInnen im "Dritten Reich" und dem besetzten Europa (z. B. "Weiße Rose", "Rote Kapelle", die Gruppe des 20. Juli, Deserteure, Geiselerschießungen wie in St. Anna di Stammezza) und die Versklavung von aus ganz Europa stammenden ZwangsarbeiterInnen.
Ein noch ganz eigenes Kapitel wären die an dem Terror in ganz Europa und der Ermordung von mehr als 3 Millionen russischen Kriegsgefangenen beteiligten deutschen Wehrmachtssoldaten.
Im Rahmen des Vortrages und eines durch ihn angestoßenen Gesprächs sollen einige grundlegende Überlegungen zu den Bedingungen des TäterInnenhandelns diskutiert werden: Ideologie (Faschismus, Totalitarismus, Nationalsozialismus, Rassismus), psychische Struktur (z. B. der von Adorno u.a. beschriebene "autoritäre Charakter") und Faktoren der soziokulturellen Umwelt (z. B. die tiefsitzenden Vorurteile gegen soziale Minderheiten oder die von Milgram beschriebene Verknüpfung von Gehorsamsbereitschaft und autoritär strukturierter Situation).
Zum Abschluss sollten wir uns fragen, inwiefern diese Thesen auch auf die heutigen rechtsextremen Bewegungen angewendet werden können und welche Gefahren von ihnen für unseren Verfassungsstaat und damit die ganze Gesellschaft ausgehen.
Wolf Ritscher stammt aus einer Familie, in der jüdische und nichtjüdische Herkunftslinien zusammentrafen und die sich im Kontext des Nationalsozialismus zu Opfer-,Täter- und Überlebensgeschichten verknüpften. Diese Familiengeschichte(n) motivierte ihn zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Folgen für die Familien der TäterInnen und Opfer. Darüber hinaus stieß die Erfahrungswelt von durch politisch motivierte Gewalt traumatisierten Menschen auf sein Interesse. Er war als Psychotherapeut, Gruppentherapeut und systemischer Familien- und Paartherapeut in den Grenzbereichen zwischen Sozialarbeit, Beratung und Therapie tätig und von 1988-2011 Professor für Psychologie und psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen. Hier war er viele Jahre Leiter des Projektes "Erziehung nach Auschwitz", in dem die Ausbildung zur Sozialarbeit mit politisch-historischer Bildungsarbeit für Jugendliche verknüpft wurde. Er ist Autor von Büchern und Artikeln über die psychologischen Folgen des Nationalsozialismus, Gedenkstättenpädagogik und Erinnerungskultur, Sozialarbeit, systemische Therapie und deren politisch-kulturell-sozialen Kontexte.
Zurzeit ist er noch als Lehrtherapeut am Bodenseeinstitut für systemische Therapie und Beratung in Radolfzell, als Vorstandsmitglied des Vereins Lebenswerk Käthe Loewenthal und der "Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber" in Stuttgart tätig.
19.00 Uhr
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Die Malerinnen Käthe Loewenthal und Susanne Ritscher und die Fotografin Agnes Schaefer sind in einem aufgeschlossenen, modernen jüdischen Elternhaus aufgewachsen. Die drei Frauen fanden so ihre eigenen Wege in die künstlerische Selbstständigkeit. Doch der beginnende Nationalsozialismus bedeutete für ihr Leben eine unwiderrufbare Zäsur.
Neben den Werken von Käthe Loewenthal werden Fotografien ihrer Schwestern Agnes Schaefer sowie eine Auswahl von Arbeiten Susanne Ritschers gezeigt.
Im Zentrum der Ausstellung steht die 1878 in Berlin geborene Käthe Loewenthal, die ihre künstlerische Ausbildung konsequent vorantrieb und zwischen 1890 und 1914 bei Ferdinand Hodler, Leo von König und Adolf Hölzel studierte. Ab 1910 wohnhaft in Stuttgart feierte sie dort vor allem in den 1920er Jahren ihre größten Erfolge. Aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten – bereits 1934 wurde sie mit einem Malverbot belegt – ist Käthe Loewenthal als Künstlerin nahezu in Vergessenheit geraten. 1942 wurde sie in einem Konzentrationslager im polnischen Izbica ermordet. Der Großteil ihres Werkes fiel im Zweiten Weltkrieg einem Bombenangriff zum Opfer. Ihr eindrückliches Landschaftswerk ist vorrangig in Pastellen und Aquarellen überliefert. Die zahlreichen Berglandschaften und Meeresbilder zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit den modernen Kunstströmungen ihrer Zeit und deren eigenwilliger Rezeption.
Agnes Schaefer, die vier Jahre jüngere Schwester Käthe Loewenthals, lebte von 1909 bis 1919 in Hellerau in Dresden, einem Zentrum der Reformbewegung in Deutschland. Agnes Schaefer begann unter dem Einfluss der mit ihr befreundeten Erna Lendvai-Dircksen, die sich später mit ihren Werken wie „Das deutsche Volksgesicht" von den Nationalsozialisten vereinnahmen ließ, zu fotografieren. 1920 ließ sie sich im Lette-Haus in Berlin zur professionellen Fotografin ausbilden. Um das Studium ihrer Kinder finanzieren zu können, wanderte sie 1923 nach Griechenland aus. Im Herbst 1933 brach Agnes Schaefer in die Berge Griechenlands auf und kehrte nicht mehr zurück. Es wird vermutet, dass die Verzweiflung über die Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Heimat ihren Lebensmut gebrochen hatte und sie sich selbst das Leben nahm.
Die jüngste Schwester Susanne Ritscher, geboren 1886, studierte Malerei in München und baute sich sehr früh ihre eigene künstlerische Existenz auf. Nach ihrer Heirat 1915 und der Geburt ihrer beiden Kinder betätigte sich Susanne Ritscher kaum noch künstlerisch. Als sie 1944 deportiert werden sollte, tauchte sie nach einer Warnung mithilfe ihrer Kinder unter. Sie täuschte einen Suizid vor und überlebte – als einzige der drei Schwestern – auf einem Bauernhof bei Zwiefalten auf der Schwäbischen Alb. Später begann sie wieder zu malen, pflegte ihre Kunst jedoch mehr im privaten Rahmen. (Zentrum für verfolgte Künste)
Ausstellungsdauer: bis 28. Februar 2025
Eine Veranstaltung des Forum Gestaltung e. V. in Kooperation mit dem Verein Lebenswerk Käthe Loewenthal e. V.