Das Haus und seine Geschichte

Die Geschichte der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg beschreibt mit ihren Vorgänger- und Nachfolgeinstitutionen wie keine zweite derartige Einrichtung im heutigen Land Sachsen-Anhalt und darüber hinaus die wesentlichen Entwicklungen des kunstgewerblichen Schulwesens in Preußen und Deutschland von seinen Anfängen um 1800 bis in die bald verstärkt einsetzenden Verschiebungen weg von kleingewerblichen zu im weitesten Sinn industriell geprägten Aufgaben gestalterischer Arbeit.

Fröhliches Beisammensein im Innenhof des Forum Gestaltung bei Abenddämmerung und Getränken.
Zeitstrahlfließtext
Oktober
1793

Im freiwilligen Arbeitshaus auf dem Breiten Weg Eröffnung als Zeichenschule mit Sonntags- und Abendunterricht durch Regierungsrat Wilhelm Gottlieb von Vangerow.

1796 erfolgt die Anerkennung durch die Berliner Akademie und die Umbenennung in "Königlich Magdeburgische Provinzial Kunstschule". Ihre Aufgabe ist es, „den vaterländischen Kunstfleiß zu befördern und auf Manufakturen und Gewerbe den wichtigen Einfluß“ auszuüben, „daß einheimische Künstler mit geschmackvollen Arbeiten jeder Art den Auswärtigen nicht ferner nachstehen.“

April
1798

Johann Adam Breyssig wird bis 1802 zum Ersten Lehrer der Anstalt.

Breysig, der heute als »Pionier der Wirklichkeitssimulation« und – mit seiner Utopie eines Autokinesitheaters – als »direkter Vorgänger der Totaltheater-Projekte des 20. Jahrhunderts« gilt, blieb auf längere Sicht der einzige bedeutende Künstler, dessen Name sich mit der Magdeburger Anstalt verband.

Johann Adam Breysig, Skizzen, Gedanken, Entwürfe, Umrisse, Versuche, Studien, die bildenden Künste betreffend, Magdeburg 1800
Johann Adam Breysig, Skizzen, Gedanken, Entwürfe, Umrisse, Versuche, Studien, die bildenden Künste betreffend, Magdeburg 1800
Oktober
1876

Die »Vereinigte Provinzial- Kunst- und gewerbliche Zeichenschule« bezieht erstmals ein eigenes Schulgebäude.

Der heutige Schinkel-Vischer-Bau ist der Gründungsbau des Kunstschul-Areals. Er wurde von 1874-76 nach Plänen des Magdeburger Stadtbaurats Aurel Sturmhöfel in den Formen der deutschen Neorenaissance errichtet. Seine heutige Bezeichnung leitet sich von den durch Porträtbüsten im Schaugiebel verewigten Karl Friedrich Schinkel und Peter Vischer d. Ä. her.

Oktober
1887

Nach erneuter Reorganisation eröffnet die Schule am 9. Oktober 1887 unter ihrem neuen Namen "Kunstgewerbe- und Handwerkerschule".

Für die nun als Hauptamt installierte Stelle des Direktors fiel die Wahl auf den Bauingenieur Eduard Spieß. Der 1849 in Darmstadt geborene Spieß hatte nach seinem Studium in Zürich für eine Schweizer Eisenbahngesellschaft im Land selbst als auch in den USA gearbeitet. Nach kurzzeitigen Studien der Kunst und Kunstgeschichte in München beschäftigte er sich zunehmend mit kunstgewerblicher Arbeit.

September
1896

Der Architekt Emil Thormählen wird neuer Direktor der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg

Den Ideen der Reformbewegung verbunden, war Thormählen eine ideale Besetzung für Magdeburg. Selbst offenbar nicht übermäßig künstlerisch ambitioniert, doch ausgestattet mit der Erfahrung des Praktikers und Lehrers, besaß er ein feines Gespür für die Forderungen der Zeit.

Oktober
1900

"Schlusswort" im Richtungsstreit um die Orientierung der Kunstgewerbeschule.

»Nur«, so hieß es, »müssen wir an der Forderung festhalten, daß für Bewertung und Anstellung von Lehrkräften nur der Gesichtspunkt des Modernen festgehalten wird, da nur dadurch ein Fortschreiten unseres Kunstgewerbes (...) ermöglicht wird.«

Oktober
1903

Ferdinand Nigg wird Nachfolger Paul Bürcks in der Klasse für Buchdrucker und Lithographen.

Der aus Liechtenstein stammende Ferdinand Nigg leitete zunächst zwei Fachklassen, die seit in einer 1905 Fachklasse für Buchgewerbe und Textilarbeiten vereinigt wurden. Die Textilabteilung war schon 1904 mit einer Werkstatt für Handweberei und Stickerei ausgerüstet. Er ist »der beste, den wir haben, so groß, so ein fach und ruhig wie keiner in seinen Arbeiten« (H. Muthesius).

April
1904

»Grand Prix« in St. Louis für Lehrer der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule, die Magdeburger Künstlergruppe.

Das gemeinsam von Albin Müller, Hans und Fritz von Heider, Paul Bürck, Paul Lang und Minna Lang-Kurz entworfene und ausgestattete Zimmer wird auf der Weltausstellung in St. Louis mit einem »Grand Prix« ausgezeichnet, ebenfalls der von Paul Bernardelli für die Pauluskirche entworfene Kronleuchter.

Mai
1906

Erfolgreiche Teilnahme von Lehrern und Schülern an der Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung in Dresden. Auszeichnungen für die Lehrer Paul Dobert, Fritz von Heider, Ferdinand Nigg und Albin Müller.

Das unter Leitung der Lehrer von den Schülern der Anstalt entworfene und realisierte Direktorenzimmer für den geplanten Schulneubau umfasste 122 Positionen und reichte von der Fensterwand über Glasbilder, Kleiderhaken, Heizkörper, Vasen, Sesselbezüge, das Mobiliar, Buchumschläge oder Kataloghüllen bis zu Kassetten aus Papier.

Oktober
1906

Der Schweizer Architekt Salomon Rudolf Rütschi wird Nachfolger des an die Künstlerkolonie Darmstadt berufenen Albin Müller.

Hermann Muthesius, der Rütschis Einstellung befürwortete, hielt Rütschis Arbeiten für »zu gut, daß sie das Publikum versteht und auch zu ruhig fürs Publikum«, das »dazu erst erzogen werden« müsse.

Oktober
1910

Einweihung des Schulerweiterungsbaus, des heutigen Emil-Thormählen-Flügels, zu dem als Schulreformer bereits nach Köln berufenen alten Direktor.

Das neue Haus und die im folgenden Jahr fertiggestellte Ausstellungshalle erlaubten neben Aktivitäten wie der permanenten Präsentation von Schülerarbeiten endlich auch den seit der Jahrhundertwende angestrengten Ausbau weiterer Werkstätten. Diesen standen, wie später am Bauhaus, ein für die technische Seite verantwortlicher Werkmeister und ein künstlerischer Leiter vor.

Mai
1911

Der Bildhauer Rudolf Bosselt wird neuer Direktor und gestaltet den Unterricht nach Maßgaben künstlerischer Subjektivität um.

Der bis dahin vor allem als Erneuerer der Medaillenkunst bekannte Rudolf Bosselt gehörte zu den ersten Künstlern, die der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen nach Darmstadt berief. Er war seit 1903 Leiter der Bildhauerklasse der von Peter Behrens geleiteten Kunstgewerbeschule Düsseldorf. Bosselt gilt als einer der gedanklichen Väter des »dualen Konzepts« des allgemeinen Bauhaus-Studienprogramms.

Oktober
1911

Bosselt holt den Keramiker und Modelleur Hans Wewerka, den er aus Düsseldorf kannte, zunächst als Hilfslehrer nach Magdeburg.

Hans Wewerka, künstlerisch beeinflusst vor allem durch Ernst Barlach und den Niederländer Joseph Mendes da Costa, gilt als vielversprechender junger Bildhauer und soll später einmal die Leitung der Bildhauerklasse übernehmen. Wie andere seiner Kollegen wird er ein Opfer des Ersten Weltkrieges. Er stirbt 1915 in einem Lazarett in Frankreich.

Oktober
1914

Die Schule erobert sich ein neues Fachgebiet. Einrichtung einer Klasse für Reproduktionsverfahren. Leiter wird Johann Graf.

Die Klasse für Reproduktionsverfahren und Fotografie wird bis nach dem Zweiten Weltkrieg von Johann Graf geleitet und wird bis über die Schließung der Schule 1963 bestehen bleiben, als von Horst Thorau geleiteter Fernstudiengang an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.

August
1915

Krieg und deutsche Mode. Rudolf Bosselt gelingt es, die erste staatlich geförderte Modeklasse an einer deutschen Kunstschule einzurichten. Else Raydt übernimmt die Leitung.

Ihr Programm entspricht den Leitsätzen des Werkbundes: Künstlerische Läuterung und Durchdringung aller Stufen der Modeindustrie bis zum Entwurf, deutscher Ursprung aller materiellen und ideellen Bestandteile der Kleidung, Bewahrung des internationalen Charakters der Mode, Einwirkung der Künstler zuallererst auf die einzelnen Bestandteile der Kleidung, beratende Tätigkeit in den Ateliers.

September
1922

Richtungsstreit zwischen dem seit 1921 als Stadtbaurat in Magdeburg tätigen Bruno Taut und Rudolf Bosselt.

Die Denkschrift Tauts, an der sich dieser Streit entzündete, gipfelte in der Feststellung, dass die Schule mit Gewinn geschlossen werden könne, wenn sie sich nicht den Erfordernissen moderner Gestaltung öffne und ihre Lehre reformiere. Der Streit führte beinahe zur Schließung der Schule und tatsächlich zum Weggang Rudolf Bosselts.

Oktober
1925

Der "Pionier des modernen Logos", Wilhelm Deffke, wird Direktor der Schule und gestaltet sie in den folgenden Jahren nach modernen Gesichtspunkten um.

Deffke hatte zu der »Duzclique junger Männer« gehört, die zwischen 1908 und 1912 im Atelier von Peter Behrens gearbeitet hatten. Außer Deffke gehörte dazu auch Walter Gropius, Mies van der Rohe, Edouard Jeanneret (Le Corbusier) und der später ebenfalls in Magdeburg tätige Architekt Peter Großmann.

Oktober
1928

Der Konstruktivist Walter Dexel kommt für den an die Breslauer Akademie wechselnden Johannes Molzahn als Leiter der Klasse für Gebrauchsgrafik nach Magdeburg.

Damit war die "Grafische Fachschule" nicht nur technisch, sondern auch personell aufs Modernste ausgestattet. Der Grafiker Hermann Eidenbenz war schon 1926 als Lehrer für Schrift nach Magdeburg gekommen. Johann Graf arbeitete seit 1914 an der Schule. Für Kurt Lange (Bucheinband) kam, ebenfalls 1928, einer der großen Meister des Bucheinbands, Heinrich Lüers.

April
1933

Am 29. April 1933 wurde Wilhelm Deffke von dem durch die neuen nationalsozialistischen Machthaber eingesetzten kommissarischen Oberbürgermeister Dr. Markmann, ohne Nennung von Gründen beurlaubt.

Um sein Schulwerk zu retten, trat Wilhelm Deffke in die NSDAP ein und bewog auch den Großteil der Lehrerschaft dazu. Doch weder der um der Sache Willen vollführte Kniefall des energischen Einzelkämpfers noch der Einsatz ihm nahe stehender Kollegen konnten ihn in sein Amt zurückbringen. Es gab weitere Entlassungen und die Schule wurde zur Städtischen Handwerkerschule.

September
1935

Am 30. September wird auch Walter Dexel entlassen. Bis zuletzt hatte er für die Wiedereinstellung Deffkes gekämpft.

Aus der Stellungnahme des Magdeburger Oberbürgermeisters Dr. Markmann: »Das Bauhaus Weimar, Stadtrat May-Frankfurt, der sich schließlich in Rußland verlor, u.a.m., waren Dr. Dexel persönlich verbundene Gesinnungsgenossen. Nicht verwunderlich, da Dr. Dexel aus Künstlerkreisen der ›Novembergruppe‹ und der ›Juryfreien‹ kam."

Januar
1946

Als Wilhelm Deffke 1946 wieder auf seinen alten Posten nach Magdeburg zurückkehrte, versuchte er sowohl personell als auch inhaltlich an Entwicklungen vor 1933 anzuknüpfen.

»Daß ich seit dem Anfange 1946 wieder in meiner alten Stellung in Magdeburg war und dort ewig nichts als die ausgebrannten Mauern einer früheren reicheren Zeit vor mir hatte, wissen Sie«, schrieb Deffke am 5. 2. 1949 in einem Brief von seinem seit dem Spätherbst 1947 währenden Krankenlager. »Es fehlt uns nun weiter nichts als die volle Gesundheit und ein neuer Anfang.«

Entwurf des Phönix von Wilhelm Deffke
Entwurf des Phönix von Wilhelm Deffke
Der rote Phönix auf schwarzem Grund, Variante des Plakats zur Ausstellung "Magdeburg lebt!"
Der rote Phönix auf schwarzem Grund, Variante des Plakats zur Ausstellung "Magdeburg lebt!"
Juli
1947

"Magdeburg lebt!" Unter diesem trotzigen Titel gestalten Lehrer und Schüler in den Räumen des ehemaligen Kaiser-Friedrich-Museums die bis heute legendäre Magdeburger "Neuaufbau-Ausstellung.

Das Sinnbild für die nach Deffkes Idee unter der künstlerischen Leitung Arno Mengs von verschiedenen Abteilungen der Schule erarbeitete Ausstellung wurde der aus der Asche aufsteigende, sagenhafte Vogel Phönix.

April
1949

In der seit 1914 bestehenden Klasse für Fotografie übernahm 1949 Karl Sütterlin nach dem bis dahin in Magdeburg tätigen Johann Graf die Leitung.

Karl Sütterlin und Horst Thorau setzten die Tradition der Edeldruckverfahren bis in die 1960er Jahre fort und erweiterten das Repertoire, indem sie neben den klassischen Techniken die Livefotografie, die Isohelie und das Fotogramm in ihre Arbeit und die Ausbildung einbezogen.

April
1952

Ein traditioneller Zweig des Kunsthandwerks etablierte sich mit der Klasse für Glasveredlung nach dem Krieg neu in Magdeburg. Zunächst von Walter Bischof geleitet, stand ihr ab 1952 Walter Gluch vor.

Aus der Klasse ging eine Gruppe von Gestaltern hervor, die einen wesentlichen Beitrag zur Glasgestaltung in der DDR geleistet hat. Schon 1954 gründeten sie das »Kollektiv Glasgestaltung Magdeburg«, das in veränderter Form und Zusammensetzung bis 2000 in Magdeburg unter einem Dach gearbeitet hat.

Juli
1963

Schließung der Schule. Offiziell wurde die Schließung mit dem fehlenden Bedarf der Wirtschaft an Absolventen künstlerischer Fachschulen begründet.

Tatsächlich hatte es in den vorangegangenen Jahren vielfach Probleme bei der Vermittlung der Studenten gegeben. Der 1963 verkündete »Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR«, bedeutete den weitgehenden Vollzug der Liquidation des kleineren und mittleren privatwirtschaftlichen Gewerbes, eine weitere Verengung der Arbeitsfelder des mittleren gestaltenden Gewerbes.